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Jedem, der den digitalen Wandel als Chance betrachten möchte, wurde gestern wieder einmal aufgezeigt, wie explosiv, ja toxisch das Internet sein kann.

Was ist passiert? Der NDR zeigte ein Video eines Bürgerdialogs. Ein Mädchen erzählt, wie es vor vier Jahren nach Deutschland gekommen ist. Berichtet von seiner Lebenssituation, erzählt, dass es Ziele, wie jeder andere auch hat. Das es gerne in Deutschland bleiben möchte. Und fängt plötzlich zu weinen an.

Wie fühlen Sie sich jetzt? Wie würden Sie jetzt reagieren?

Frau Merkel möchte das Mädchen trösten, sucht nach Worten, möchte es über den Kopf streicheln.

Was dann passiert, ist mit einem klaren Menschenverstand kaum zu erfassen. Die Kanzlerin wird an den digitalen Pranger gestellt. Unter dem Hashtag #Merkelstreichelt entlädt sich auf einmal so viel Hass, so viel Häme, so viele Beleidigungen, entwürdigende Äußerungen – das es einem eiskalt den Rücken herunter läuft. Sucher, ein paar Kieselsteine haben noch niemanden umgebracht.

Steine! Schöne Steine. Wer will Steine? Was, sie wollen die Steine vom Wegesrand? Hey. Ich habe hier schöne, bereits vorgefertigte, von bester Qualität. Kommen Sie, ein Stein geht doch immer. Los wirf. Vielleicht ist es Dein Stein, der etwas verändert. Der das Kartenhaus zum Einstürzen bringt. Du schaffst das. Du weißt nicht genau worum es geht? Macht nix. Hier ist der Link, da kannst Du Dir das Video anschaun. Nur so viel schon einmal. Es ist ein Einheimischer.

Ich frage mich, ob wir schon an dem Punkt sind, an dem dieses enthemmte Verhalten auch in der Realität gelebt wird. Ich meine, schreiben können wir ja schon. Sachverhalte wiedergeben auch. Aber können wir auch reden? Und können wir Situationen richtig einordnen und v.a. schaffen wir es, bei der heutigen Schnelllebigkeit noch auf das, was wir irgendeinmal in Bezug auf Umgangsformen gelernt haben, zuzugreifen oder kommt unter Druck unser wahres Naturell zum Vorschein? Kann uns das eigentlich negativ angerechnet werden? Oder haben wir uns endlich emanzipiert und sind stolz darauf, unsere Meinung sagen zu dürfen?

Gibt es hier vielleicht irgendjemanden, der Frau Merkel hilfreich unter die Arme gegriffen hätte? Oder würden sie sich vor die Kamera stellen, den Finger auf sie zeigen und ihr wütend entgegenschleudern, dass sie ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. (Kurzer Hinweis der Redaktion: Sie wissen jetzt nicht, was sie ihr in der realen Situation gesagt hat. Sie haben ja immer noch nur den Zusammenschnitt vor Augen.)

Meinungsbildung im Netz

Wie Meinungsbildung im Netz funktioniert, wurde uns gestern wieder einmal anschaulich demonstriert. Verlässlich, wie dressierten Pferdchen ist die Masse den digitalen Trollen gefolgt. Warum sollte es auch in Frage gestellt werden. Schließlich steht ja auf den Visitenkarten – Digitaler Transformator – Ich helfe Unternehmen, den digitalen Wandel zu verstehen.

Endlich gab es wieder ein Ventil, den eigenen Frust, die Langeweile der Politikverdrossenheit zu kanalisieren. Man konnte ein paar RTs oder gar Favs einsacken und sich am Ende befriedigt zurücklehnen, endlich mal wieder die Massen bewegt zu haben. Es endlich mal wieder selbst in die Presse geschafft zu haben. Endlich mal wieder auf die Schulter geklopft zu bekommen. Und endlich mal wieder die eigenen Meinung mit der Masse abgeglichen zu haben.

Und es war kein Problem, mit was oder mit wem das, man dieses Ziel erreicht hat. Ist denn schon wieder Freital? Ist es das, was ich unter Inklusion zu verstehen habe?

Die Rolle der Medien

Betrachtet man das Ergebnis und hebt diese Aktion in einen etwas größeren Kontext, könnte man den Eindruck bekommen, dass es wieder einmal nötig ist, Medien und Presse etwas zu hinterfragen. Die Einheizer vom Dienst. Qualitätsmedien, die getreu dem Motto, der Weg ist das Ziel, den Sprung in das digitale Zeitalter probieren. Mein Leben ist Lernen. Ich hoffe, mir werden die Fehler, die ich mache, nachgesehen und auch später noch in den jeweiligen Kontext eingeordnet #vorsichtigzurSeiteschau

„Der Sascha Lobo, der war doch damals gerade hipp. Wir mussten seinen Tweet Retweeten. Wir gehen davon aus, dass er uns dann auch Retweetet. Damit vergrößert sich unsere Reichweite exorbitant. Wir müssen die Meinungsbildner mit einbinden. Damals, das war eine schwierige Zeit. Tag für tag mussten wir unseren Außenauftritt ändern. Mein Sohn hat mir erklärt, wie das mit dem Internet geht.  Wir wollten emotionaler sein und die Sprache des Volkes aufgreifen. Am Ende hätte man uns sonst nicht mehr gelesen. Auswertungen hinsichtlich unserer Zielgruppen und deren Lebenswelten und Einstellungen???  Die lagen uns nicht vor. Das stand doch im Internet. Dort auf Facebook. Die haben doch kommentiert. Und dann wussten wir, was sie gerne hören wollen.

Strategische Positionierung? Davon haben wir noch nur auf dem Pressekonferenzen gehört. Wir haben im Netz gesucht. Später haben wir erfahren, dass es eine Umleitung nach Russland gab.  Da stand was von Leadership – wie man die Massen für sich begeistert.“

Ich bin gespannt, wie der ein oder andere sein Verhalten in den jeweiligen Situationen später einmal erklären wird.

Ich frage mich wirklich, wer in den jeweiligen Redaktionen sitzt. Welche persönliche Motivation bringt derjenige mit? Gibt es noch eine Ausgewogenheit der Darstellung? Wird noch wirklich informiert oder werden Meinungen bereits frei Haus geliefert? Ist Meinungsvielfalt und Individualität noch gefragt oder wird bereits Einheitssoße produziert? Ist der Drang, sich mit allem kritisch auseinandersetzen zu wollen bereits krankhaft?

Fühlen Sie sich jetzt persönlich angegriffen? Ich hoffe nicht, ansonsten sollten wir vielleicht lieber einen Spaziergang machen und  darüber reden.

Ein anderer Kontext

Für mich geht es nicht darum, dass Frau Merkel vielleicht nicht die richtigen Worte in der richtigen Situation gefunden hat. Dies stellt sich nämlich für mich überhaupt nicht dar. Ich kann diese Erwartungshaltung nicht teilen. Sondern gebe sie einfach mal zurück. In einem etwas anderen Kontext.

Ihr arbeitet im Krankenhaus. Habt bereits 7 Nachtdienste am Stück gearbeitet. Euch sind in der Zeit fast 3 Patienten unter den Händen weggestorben. Zum einen weil die Patienten krank waren, zum anderen, weil der Arzt nicht zur Stelle war, als man ihn brauchte. Ihr völlig übernächtigt ward, ihr nur 3 Stunden geschlafen habt, Eure Kinder von der Kita abgeholt habt und ihnen noch bei den Hausaufgaben geholfen habt. Ihr seid frustriert, weil ihr dem Frühdienst eine saubere Station übergeben wolltet und eigentlich noch 2 Vollpflegefälle waschen wolltet, damit es die Kollegen leichter haben.

Hämpelchen und Pämpelchen aus Zimmer 10, beide an einer Geschlechtskrankheit leidend, haben nichts Besseres zu tun, als Euch heimlich bei der Arbeit zu fotografieren, sich die Ecken des Patientenzimmers ganz genau anzuschaun und den aktuellen Zustand in Form von Kurzfilmchen zu dokumentieren und diese dann zusammen mit Essenfotos dem Rest der Welt zur Verfügung zu stellen. Reporter decken auf. Yeah!

Juckt es Euch jetzt in den Fingern, den Namen der Geschlechtskrankheit, an der die beiden leiden, öffentlich zu posten? Oder würdet ihr die Beiden rausschmeißen und an ein anderes Krankenhaus verweisen? Oder wärt ihr einfach fassungslos, weil es einfach unerträglich ist, dass ihr, die Euch um die 2 Patienten kümmert von ihnen öffentlich so bloß gestellt werdet. Denn, dass die Station hoffnungslos unterbesetzt ist, verschweige die Beiden natürlich. Dass ihr bereits fünfmal bei Ihnen wart uns Euch danach erkundigt habt, wie es ihnen geht und ob der Ausfluss noch juckt auch. Sie erzählen auch nicht, dass Herr Müller einen Schlaganfall hatte und nur noch passierte Kost essen darf. Sie erzählen auch nicht, dass im Nachbarzimmer gerade jemand reanimiert wurde und deshalb niemand auf die Klingel reagiert hat. Einseitige Kommunikation steht also an der Tagesordnung. Jetzt kann man nur hoffen, dass ihr deshalb nicht gekündigt werdet, oder?

Ich weiß nicht, was in Bezug auf #Merkelstreichelt eher zutrifft. Die Kreuzigung von Jesus Christus oder die Szene der Steinigung aus dem Film „Das Leben des Brian“.

Für mich hat Frau Merkel nichts Falsches gemacht. Ich war nämlich nicht live dabei. Ich kann gar nicht beurteilen, was sie in welchem Zusammenhang gesagt hat. Ich konnte ihre Körpersprache nicht interpretieren, würde ich auch gar nicht wollen, da ich sie nicht gut genug kenne, als das ich sie einordnen kann. Mir lag auch nicht der Regieplan vor. Ich weiß nicht, wer den Tagesablauf geschrieben hat. Ich weiß nicht, wer das Mädchen auf das Gespräch vorbereitet hat. Ich weiß nicht, was in den Presseleuten vorging, als die diesen Termin dokumentiert haben. Ich weiß nicht einmal, wer hinter den Presseleuten stand. Ob es ein Interesse gab, wieder einmal Vertrauen zu erschüttern oder Verhandlungsstärke zu schwächen. Wenn Du Systeme zerstören willst, dass musst Du dies von innen tun, heißt es doch so schön.

Was ich gerne wissen möchte.

Passiert Ihnen das im Unternehmenskontext auch. Verhalten Sie sich ihrem Chef gegenüber auch so? Treten Sie Kunden und Kollegen auch auf diese Weise gegenüber? Und berufen Sie sich dabei auf Ihr Recht, der freien Meinungsäußerung? Wenn Sie jetzt mit JA antworten, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln.

Ist pöbeln jetzt Cult? Benehmen, Respekt vor der Andersartig des Gegenübers, besonders, wenn der andere gar nicht anwesend ist und sich nicht wehren kann, existiert anscheinend auch nicht.

Ganz ehrlich, ich als Unternehmen habe kein Interesse, mit solchen Leuten zusammenzuarbeiten. Gründe gibt es für mich genug:

Ich finde diese Form der zwischenmenschlichen Interaktion widerlich. Sie verträgt sich nicht mit meinem Kodex, entspricht nicht dem, was ich mir als Maßstab für meine Interaktion mit anderen Menschen gesetzt habe. Ist frei von Respekt und würdelos.

Ich hole mir nicht den Mob ins Haus. Mobbing ist für mich nicht tragbar. Ich möchte jeden meiner Mitarbeiter davor schützen, öffentlich an den Pranger gestellt und der Meute zum Fraß vorgeworfen zu werden.

Intrigantes Verhalten und Verhetzung meiner Mitarbeiter ist für mich ein Grund, mich von einem Berater oder auch Mitarbeiter zu trennen.

Ich wünsche mir, dass meine Mitarbeiter und erst recht meine Berater, Objektivität mitbringen und leben. Ich schätze Individualität, gar kein Thema. Aber die Fähigkeit, eine Distanz einnehmen zu können und nicht alles, was man irgendwo liest oder hört unreflektiert zum Besten zu geben ist für mich eine Grundvoraussetzung, um mit jemanden zusammenarbeiten zu können.